Samstag, 23. März 2013

Dorfwärts

Warm, erstmalig richtig warm strahlt die Sonne auf den windstillen Märztag.
Westwärts laufe ich. Dorfwärts. Ruhe macht sich breit. Nur hier und da die Beweise für geschäftigen Wochenendsfleiß. Das Klopfklopf eines Hammers. Das Briubriumm einer Kettensäge. Das Damdadamm einer holpernden Schubkarre. Auf einem schmalen Feld fixiert eine Frau Plastikfolien über jungen Setzlingen. Auf einem Dach spachtelt ein älterer Mann Zement an einen halbfertigen Schornstein. In Fensterhöhlen setzen blaue Latzhosen Scheiben ein. Brückenpfosten werden geschweißt, Zaunslatten zusammengenagelt, Steine herangekarrt. Rohbauten wachsen aus dem Boden, verputzt wird später. Rohre, Drähte, Steinhaufen warten auf ihren Einsatz. Wie lang braucht es, ein Land wieder aufzubauen?


Eine Pferdekutsche rumpelt vorbei, hat Holzbretter und einen kleinen Jungen geladen. Das Pferd ist schön. „Topi! Topi!“, ruft eine Handvoll Kinder, stürmt dem rot-schwarzen Ball hinterher, der aus dem Gartentor auf die kaum befahrene Straße kullert. Ein Papa hält seine kleine Tochter auf dem Arm, gibt ihr einen Kuss auf die Stirn, zählt dabei laut die Springseilsprünge seines großen Mädchens. Ein dicklicher Mann stopft seine Verwandtschaft in ein Auto und winkt zum Abschied. Hinter knospendem Gestrüpp rauchen zwei pubertierende Jungs ihre erste Zigarette.


Das zaghafte Wiesengrün der letzten Wochen sticht nun provokant rebellisch aus dem allgegenwärtigen Überbraun hervor. Darauf ab und zu rote, pinke Ostereier. Nein, es sind Plastikblumen. Zieren Gräber. Ehren im Krieg gefallene Befreiungskämpfer. Aufgeplusterte Hühner schleichen pickend darum. Fette Truthähne hinterlassen Krallenspuren im Schlamm. Ich rieche Kühe.



Montag, 18. März 2013

Wenn zwei sich um die Sonne streiten


Schneeweiß ist Prishtina, als ich in den Bus nach Skopje steige. Nach Mazedonien. Nach Süden. Wir haben die Stadtgrenze gerade erst passiert, da fallen bereits meine Augen zu. Wenn ich in meinem Kinderwagen nur annähernd so schnell eingeschlafen sein sollte wie mittlerweile in Autos, Bussen und Zügen, muss ich ein sehr friedliches Baby gewesen sein.
Als ich aufwache, ist Frühling. Wie lange habe ich geschlafen? Zwei Stunden und siebenundachtzig Kilometer. Passkontrolle an der mazedonischen Grenze.

Zu zweit ist das Reisen schöner. Martyna und ich nehmen einen Bus, der uns von Skopje aus weiter südlich bringt. Über Ausläufer der dinarischen Alpen. Monoton schnauft der Bus den Berg hinan. Motor monoton. Dreht nach rechts, dreht nach links, Blick nach links, Blick nach rechts, monoton, Motor monoton, und immer bergauf. Monoton motormonoton monotonmotor monomonoton monoton.
Als ich aufwache, ist Winter. Noch immer schnauft der Bus, noch immer bergauf, noch immer monoton. Dunkelgraue Bergriffe, mit Puderzucker, Zuckerguss bestäubt, beträufelt, stehen respekteinflößend da draußen hinter meiner Busfensterscheibe. Über sie schnauft der Bus, immer bergauf, noch immer monoton.Serpentine um Serpentine. Bis wir unmerklich und doch mit einem erleichternden Kribbeln im Bauch oben, ganz oben ankommen. Und es wieder bergab geht. Monoton monoton monomono monoton.




Als ich aufwache, ist Nacht. In Ohrid. Am Ohridsee gelegen, einem der ältesten Seen der Erde. Wenn es nicht bereits dunkel wäre, wenn ich nicht kurzsichtig wäre, wenn es keinen Konjunktiv gäbe, könnte ich über diesen See hinweg nach Albanien schauen. Und nach Griechenland. Und vielleicht sogar nach Afrika.
Pralle Regentropfen prasseln auf meine Kapuze, auf das persilweiß erleuchtete Kreuz der Kirche neben uns. „Wir warten an der Kirche, kommst du uns abholen?“ – „Welche Kirche? Wir haben 365 davon.“ Schließlich bildete Ohrid im Mittelalter, als das Gebiet Teil des Ersten Bulgarischen Reiches war, den Mittelpunkt der slavisch-orthodoxen Christenheit.
Schmale Gassen, ihre abgeschliffenen Pflastersteine schimmern regennass. Wir sind von Cime abgeholt worden und nun auf dem Weg zum vielleicht schönsten Platz in der vielleicht schönsten Stadt Mazedoniens: Eine Kirche, kaum länger als breit, steinern und gedrungen, schaut von einem Felsvorsprung auf den See. Über die Stadt, schaut auf die harmonisch verschwimmenden hellwarmen Lichter der Häuser, auf die störende grellgrüne Leuchtreklame eines Hotels, schaut auf die Treppenstufen entlang der Stadtmauer. Auf ihrer eckigen Kuppel leuchtet, persilweiß, ein kurzes Kreuz.



Wir sind seltsam still geworden, stapfen weiter bergan über Kieselsteine und aufgeweichte Erde. Vorbei an einer anderen Kirche. Und noch einer. Vorbei an einer Basilika und einem Kloster. Und noch einer Kirche. Vorbei an einem antiken Amphitheater. Und der ersten slavischen Universität der Welt. Und noch einer Kirche. Lautlos schlagen Flügel in Tannenhöhe. Es riecht nach Moder und warmem Wind. Am höchsten Punkt von Ohrid fühle ich mich ganz klein. Hier thront die Burg, in welcher der bulgarische Zar Samuil lebte. Beleuchtet von elektrischen Lichtstrahlern, einer flackert, surrt unheimlich. Lautlos schlägt die Fahne in Mastenhöhe. 16 Strahlen einer Sonne. Acht davon blutrot.



Die Flagge Mazedoniens - Ein Kompromiss. Wie der Name des Staates:
In der Antike war Makedonien (mit K) ein Großreich, das sich durch die Eroberungen des Makedoniers Alexanders des Großen von Persien bis zum Mittelmehr erstreckte. Bis zum 14. Jahrhundert fiel es nacheinander unter griechische, slavische, byzantinische, serbische und
bulgarische Herrschaft, bevor es 500 Jahre lang zum Osmanischen Reich gehörte. Erst als Anfang des 20. Jahrhunderts die großen Vielvölkerreiche zerfielen, wurde 1913 das historische Makedonien scheinbar willkürlich auf vier verschiedene Staaten aufgeteilt: Zwei kleine Teile wurden Albanien im Westen und Bulgarien im Osten angegliedert, die größeren Teile gingen an Griechenland im Süden und im Norden an das Land der Südslaven, das spätere Jugoslavien. Dieser südslavische Teil erklärte sich 1991 mit dem Zerfall Jugoslaviens unabhängig – als Republik Makedonien. Und damit begann die kindsköpfige Geschichte eines Namensstreites, über die man schmunzeln könnte, wären ihre Auswirkungen nicht so dramatisch.
2013 - Former Yugoslavic Republic of Macedonia

1913 - Aufteilung des historischen Makedoniens

Griechenland weigerte sich, den neuen Staat unter dem Namen Makedonien anzuerkennen, weil nach dessen Ansicht sowohl das historische Makedonien, als auch die Sonne auf der Nationalflagge - dem Symbol Alexanders des Großen - zum griechischen Erbe gehören. Die griechische Regierung verhängte sogar ein Handelsembargo (an dessen wirtschaftlichen Folgen das Land noch immer zu knabbern hat) und verhinderte den NATO-Beitritt Makedoniens, um ihm einen neuen Namen und eine neue Flagge aufzuzwingen. Beinahe lächerliches Tauziehen um einen Nationalhelden. Man sagt, der Klügere gebe nach. Deshalb trägt der Staat nun den zungenbrecherischen Namen Former Yugoslavic Republic of Macedonia (FYROM) und die neue Flagge sieht aus wie ein rot-gelber Ventilator, der in abstrakter Form an die Sonne Alexanders des Großen erinnert.

„Wir waren ein großes Land“, erklärt Cime mit träumerischer Stimme, als wir noch immer unter dem hohen Fahnenmast vor der Burg stehen, „heute haben wir nur noch 2 Millionen Einwohner."

Die umstrittene Flagge mit der Sonne von Vergina
Die neue Flagge Mazedoniens


Der Satz macht mich nachdenklich. Deutschland war auch mal größer. Doch das ist ein Land, das ich nur aus dem Geschichtsbuch kenne, nach dem ich mich nicht sehne. Eine Wahrheit, die nicht vergessen, jedoch akzeptiert werden sollte als das, was sie ist. Vergangenheit. Längst ruhende Vergangenheit. Den Blick nach vorn gerichtet. Doch wie kann ein Land seinen Blick nach vorn richten, das nach Ansicht seiner Nachbarn nicht existiert? Nicht existieren darf?
Der Blick über die Stadt verschwimmt. Im Rauch einer abwesend gerauchten Zigarette. In Kristians Hand, er hockt am Bergrand, weit weg in Gedanken. Von hinten sehen seine vollen, dunklen Haare aus wie die von Alexander. Alexander dem Großen.



Als ich aufwache, ist Herbst. Nebliger Herbst. Dicke Rauchschwaden im Studentenwohnheim. Volle Aschenbecher, leere Weinflaschen, nackte Füße. Im Waschbecken, in der Dusche türmen sich Teller und Kaffeetassen. Warmes Wasser gibt es erst wieder in zwei Stunden. Neonorange strahlen die Glühdrähte hinter den Gitterstangen der Heizung, trocknen die davor stehenden Schuhe.
Schuhe an, Rucksack gestopft. Es geht weiter. Mit dem Bus.

Als ich aufwache, schreiben wir das Jahr 357 v. Chr. Das heutige Bitola, 15 Kilometer von der griechischen Grenze entfernt, heißt Heraklea. Philipp II, der Vater des streitumwobenen Alexanders, erbaut die Stadt Heraklea an der späteren Via Egnatia, der wichtigen Handelsroute vom Schwarzen Meer zur Adria.
Kopflose Statuen, rumpflose Torsos, ein Amphitheater ohne Zuschauer. Makedonien war einmal…



Wir nehmen einen Bus nach Strumica.
Als ich aufwache, ist die fünfte Jahreszeit. Karneval! Euphorisch schallt eine Parade durch die Innenstadt. Trotzt der Kälte mit übervollen Kostümen. Drachen, Blumen, Micky Mäuse. Wer nicht frieren will, tanzt. Oder trinkt Rakia. Die Straßen sind voll. An ihren Rändern qualmen Würste auf Grillplatten, dampft irgendeine Flüssigkeit aus beheizten Töpfen. Vermutlich Rakia. Vor Clubs und Bars tanzen bunte Menschen. Ein 12-jähriger Junge mit beneidenswerter Beweglichkeit wird angefeuert im Mittelpunkt eines Kreises. Alles springt und wackelt.



Als ich aufwache, ist wieder Frühling. In Kavadarci. Von hier aus nehme ich meinen letzten Bus. Nachhause.
Apfelblüten, Kirschblüten ziehen am Fenster vorbei. Weingärten, noch sehen die Reben verstümmelt und reglos aus. Kyrillische Schriftzeichen machen mich zur Analphabetin. Quadratische, flache Häuser in hellen Farben, rötliche Dächer. Dörfer mit Kirchen - klein und dick und steinern - und Moscheen - runde Steindächer, manchmal farbig, hohe, schlanke Minarette mit Dächern so spitz wie Zwergenhüte. Je nördlicher, desto mehr Moscheen. Desto mehr albanische Flaggen der immerhin 25 Prozent ausmachenden albanischen Minderheit. Desto mehr albanische Straßenschilder. Das letzte ruft: Mirë se vini në Kosovë! Willkommen im Kosovo! 


  

Bildquellen: historyofmacedonia.org, yourchildlearns.com, nationalflaggen.de