Schneeweiß ist Prishtina, als ich in den Bus nach Skopje steige. Nach Mazedonien. Nach Süden. Wir haben die Stadtgrenze gerade erst passiert, da fallen bereits meine Augen zu. Wenn ich in meinem Kinderwagen nur annähernd so schnell eingeschlafen sein sollte wie mittlerweile in Autos, Bussen und Zügen, muss ich ein sehr friedliches Baby gewesen sein.
Als ich aufwache, ist
Frühling. Wie lange habe ich geschlafen? Zwei Stunden und siebenundachtzig
Kilometer. Passkontrolle an der mazedonischen Grenze.
Zu zweit ist das Reisen
schöner. Martyna und ich nehmen einen Bus, der uns von Skopje aus weiter
südlich bringt. Über Ausläufer der dinarischen Alpen. Monoton schnauft der Bus
den Berg hinan. Motor monoton. Dreht nach rechts, dreht nach links, Blick nach
links, Blick nach rechts, monoton, Motor monoton, und immer bergauf. Monoton
motormonoton monotonmotor monomonoton monoton.
Als ich aufwache, ist
Winter. Noch immer schnauft der Bus, noch immer bergauf, noch immer monoton.
Dunkelgraue Bergriffe, mit Puderzucker, Zuckerguss bestäubt, beträufelt, stehen
respekteinflößend da draußen hinter meiner Busfensterscheibe. Über sie schnauft
der Bus, immer bergauf, noch immer monoton.Serpentine um Serpentine. Bis wir
unmerklich und doch mit einem erleichternden Kribbeln im Bauch oben, ganz oben
ankommen. Und es wieder bergab geht. Monoton monoton monomono monoton.
Als ich aufwache, ist
Nacht. In Ohrid. Am Ohridsee gelegen, einem der ältesten Seen der Erde. Wenn es
nicht bereits dunkel wäre, wenn ich nicht kurzsichtig wäre, wenn es keinen
Konjunktiv gäbe, könnte ich über diesen See hinweg nach Albanien schauen. Und
nach Griechenland. Und vielleicht sogar nach Afrika.
Pralle Regentropfen
prasseln auf meine Kapuze, auf das persilweiß erleuchtete Kreuz der Kirche
neben uns. „Wir warten an der Kirche, kommst du uns abholen?“ – „Welche Kirche?
Wir haben 365 davon.“ Schließlich bildete Ohrid im Mittelalter, als das Gebiet
Teil des Ersten Bulgarischen Reiches war, den Mittelpunkt der
slavisch-orthodoxen Christenheit.
Schmale Gassen, ihre abgeschliffenen
Pflastersteine schimmern regennass. Wir sind von Cime abgeholt worden und nun
auf dem Weg zum vielleicht schönsten Platz in der vielleicht schönsten Stadt
Mazedoniens: Eine Kirche, kaum länger als breit, steinern und gedrungen, schaut
von einem Felsvorsprung auf den See. Über die Stadt, schaut auf die harmonisch
verschwimmenden hellwarmen Lichter der Häuser, auf die störende grellgrüne
Leuchtreklame eines Hotels, schaut auf die Treppenstufen entlang der
Stadtmauer. Auf ihrer eckigen Kuppel leuchtet, persilweiß, ein kurzes Kreuz.
Wir sind seltsam still
geworden, stapfen weiter bergan über Kieselsteine und aufgeweichte Erde. Vorbei
an einer anderen Kirche. Und noch einer. Vorbei an einer Basilika und einem
Kloster. Und noch einer Kirche. Vorbei an einem antiken Amphitheater. Und der ersten
slavischen Universität der Welt. Und noch einer Kirche. Lautlos schlagen Flügel
in Tannenhöhe. Es riecht nach Moder und warmem Wind. Am höchsten Punkt von
Ohrid fühle ich mich ganz klein. Hier thront die Burg, in welcher der
bulgarische Zar Samuil lebte. Beleuchtet von elektrischen Lichtstrahlern, einer
flackert, surrt unheimlich. Lautlos schlägt die Fahne in Mastenhöhe. 16
Strahlen einer Sonne. Acht davon blutrot.
Die Flagge Mazedoniens -
Ein Kompromiss. Wie der Name des Staates:
In der Antike war Makedonien (mit K) ein Großreich, das
sich durch die Eroberungen des Makedoniers Alexanders des Großen von Persien
bis zum Mittelmehr erstreckte. Bis zum 14. Jahrhundert fiel es nacheinander
unter griechische, slavische, byzantinische, serbische und
bulgarische
Herrschaft, bevor es 500 Jahre lang zum Osmanischen Reich gehörte. Erst als
Anfang des 20. Jahrhunderts die großen Vielvölkerreiche zerfielen, wurde 1913
das historische Makedonien scheinbar willkürlich auf vier verschiedene Staaten
aufgeteilt: Zwei kleine Teile wurden Albanien im Westen und Bulgarien im Osten
angegliedert, die größeren Teile gingen an Griechenland im Süden und im Norden
an das Land der Südslaven, das spätere Jugoslavien. Dieser südslavische Teil
erklärte sich 1991 mit dem Zerfall Jugoslaviens unabhängig – als Republik Makedonien. Und damit begann
die kindsköpfige Geschichte eines Namensstreites, über die man schmunzeln
könnte, wären ihre Auswirkungen nicht so dramatisch.
2013 - Former Yugoslavic Republic of Macedonia |
1913 - Aufteilung des historischen Makedoniens |
Griechenland weigerte sich, den neuen Staat unter dem Namen Makedonien anzuerkennen, weil nach dessen Ansicht sowohl das historische Makedonien, als auch die Sonne auf der Nationalflagge - dem Symbol Alexanders des Großen - zum griechischen Erbe gehören. Die griechische Regierung verhängte sogar ein Handelsembargo (an dessen wirtschaftlichen Folgen das Land noch immer zu knabbern hat) und verhinderte den NATO-Beitritt Makedoniens, um ihm einen neuen Namen und eine neue Flagge aufzuzwingen. Beinahe lächerliches Tauziehen um einen Nationalhelden. Man sagt, der Klügere gebe nach. Deshalb trägt der Staat nun den zungenbrecherischen Namen Former Yugoslavic Republic of Macedonia (FYROM) und die neue Flagge sieht aus wie ein rot-gelber Ventilator, der in abstrakter Form an die Sonne Alexanders des Großen erinnert.
„Wir waren ein großes Land“, erklärt Cime mit träumerischer Stimme, als wir noch immer unter dem hohen Fahnenmast vor der Burg stehen, „heute haben wir nur noch 2 Millionen Einwohner."
Die umstrittene Flagge mit der Sonne von Vergina |
Die neue Flagge Mazedoniens |
Der Satz macht mich nachdenklich. Deutschland war auch mal größer. Doch das ist ein Land, das ich nur aus dem Geschichtsbuch kenne, nach dem ich mich nicht sehne. Eine Wahrheit, die nicht vergessen, jedoch akzeptiert werden sollte als das, was sie ist. Vergangenheit. Längst ruhende Vergangenheit. Den Blick nach vorn gerichtet. Doch wie kann ein Land seinen Blick nach vorn richten, das nach Ansicht seiner Nachbarn nicht existiert? Nicht existieren darf?
Der Blick über die Stadt
verschwimmt. Im Rauch einer abwesend gerauchten Zigarette. In Kristians Hand,
er hockt am Bergrand, weit weg in Gedanken. Von hinten sehen seine vollen,
dunklen Haare aus wie die von Alexander. Alexander dem Großen.
Als ich aufwache, ist
Herbst. Nebliger Herbst. Dicke Rauchschwaden im Studentenwohnheim. Volle
Aschenbecher, leere Weinflaschen, nackte Füße. Im Waschbecken, in der Dusche
türmen sich Teller und Kaffeetassen. Warmes Wasser gibt es erst wieder in zwei
Stunden. Neonorange strahlen die Glühdrähte hinter den Gitterstangen der
Heizung, trocknen die davor stehenden Schuhe.
Schuhe an, Rucksack
gestopft. Es geht weiter. Mit dem Bus.
Als ich aufwache,
schreiben wir das Jahr 357 v. Chr. Das heutige Bitola, 15 Kilometer von der
griechischen Grenze entfernt, heißt Heraklea. Philipp II, der Vater des
streitumwobenen Alexanders, erbaut die Stadt Heraklea an der späteren Via
Egnatia, der wichtigen Handelsroute vom Schwarzen Meer zur Adria.
Kopflose Statuen,
rumpflose Torsos, ein Amphitheater ohne Zuschauer. Makedonien war einmal…
Wir nehmen einen Bus nach
Strumica.
Als ich aufwache, ist die
fünfte Jahreszeit. Karneval! Euphorisch schallt eine Parade durch die
Innenstadt. Trotzt der Kälte mit übervollen Kostümen. Drachen, Blumen, Micky
Mäuse. Wer nicht frieren will, tanzt. Oder trinkt Rakia. Die Straßen sind voll.
An ihren Rändern qualmen Würste auf Grillplatten, dampft irgendeine Flüssigkeit
aus beheizten Töpfen. Vermutlich Rakia. Vor Clubs und Bars tanzen bunte
Menschen. Ein 12-jähriger Junge mit beneidenswerter Beweglichkeit wird
angefeuert im Mittelpunkt eines Kreises. Alles springt und wackelt.
Als ich aufwache, ist
wieder Frühling. In Kavadarci. Von hier aus nehme ich meinen letzten Bus.
Nachhause.
Apfelblüten, Kirschblüten
ziehen am Fenster vorbei. Weingärten, noch sehen die Reben verstümmelt und
reglos aus. Kyrillische Schriftzeichen machen mich zur Analphabetin.
Quadratische, flache Häuser in hellen Farben, rötliche Dächer. Dörfer mit
Kirchen - klein und dick und steinern - und Moscheen - runde Steindächer,
manchmal farbig, hohe, schlanke Minarette mit Dächern so spitz wie Zwergenhüte.
Je nördlicher, desto mehr Moscheen. Desto mehr albanische Flaggen der immerhin
25 Prozent ausmachenden albanischen Minderheit. Desto mehr albanische
Straßenschilder. Das letzte ruft: Mirë se vini në Kosovë! Willkommen im Kosovo!
Bildquellen: historyofmacedonia.org, yourchildlearns.com, nationalflaggen.de
Bildquellen: historyofmacedonia.org, yourchildlearns.com, nationalflaggen.de
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